Energiemembranen - von der zwingenden Präsenz der Farbe

Einführungsrede Peter H. Forster im Museum Heppenheim, 2008

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Andrea Varesco

Die Bilder von Andrea Varesco behaupten eine physische Gegenwart, der man sich nicht entziehen kann. Varesco scheint es nicht in erster Linie darum zu gehen, eine unmittelbare Nähe zwischen Bild und Betrachter herzustellen, sondern ihre Bilder behaupten sich zu allererst im Raum. Ermöglicht wird dies durch exakte Planung. Varesco kennt die hiesigen Räumlichkeiten aufgrund einer vormaligen Ausstellung und mehrerer Besuche sehr gut. Die hier gezeigten Arbeiten sind aktuelle Arbeiten und stammen alle aus den Jahren 2007/08. Die Künstlerin beschäftigt sich zunächst intensiv mit den Räumlichkeiten, in denen sie ihre Arbeiten präsentiert. Der Raum selbst wird zu einem Integralen gegenüber ihrem Werk.
Dabei geht sie einen Schritt weiter, nicht allein die Beziehung zum Raum soll adäquat sein, sondern der Raum selbst soll durch ihre Eingriffe sichtbar, kenntlich, erfahrbar werden. Mit dieser Haltung steht sie nicht allein, sondern in einer Tradition, die mit Lucio Fontana einen ersten Höhepunkt erreichte. Fontana formulierte nicht nur theoretisch den Begriff „Raumkunst“ sondern ihm gelang ab 1958 mittels seiner berühmten Schnitte auf der zuvor mit einem monochromen Farbfeld versehenen Leinwand, Erstaunliches. Fontana zeigte durch die Aufschlitzung der Leinwand, dass er damit dem Gemälde Raum geben, sowie ihn verdrängen konnte, und dass hinter dem Bild Raum ist, der durch die Schnitte sichtbar wird. Von da an war es ein kleiner Schritt, weg von der Wand und direkt mittels Objekte in den Raum zu gehen. Auch die amerikanischen Minimalisten beanspruchten später den Raum für sich. Deren Garant für die Sichtbarmachung von Raum über Kunst war die Serie bzw. das serielle Arbeiten. Wenn man so will, kann man sagen, die Minimalisten haben den Raum durch Kunst befreit und ihn mit der Kunst versöhnt. Dabei vermieden sie nicht nur jegliche narrative Erzählung, sondern wollten wieder Ordnung und Struktur in die Kunst bringen. Die eigene Handschrift wurde ausgeblendet und zugunsten der Materialien zurückgenommen. Die Arbeiten standen nur für sich und negierten jede Illusion oder jeden Verweis. Illusionismus und Emotionalität waren auch gar nicht mehr nötig, da die Werke dem Betrachter etwas nahe brachten, worauf zuvor kein Betrachter geachtet hat, nämlich den Raum.
Und damit sind wir wieder bei Andrea Varesco. Formal und, ich denke auch von der Haltung her, steht sie in einer unmittelbaren Linie zu den amerikanischen Minimalisten. Im Raum mit dem Raum zu arbeiten. Ihr Werk ist ein Zusammenklingen mit dem Raum. Nicht umsonst hat die Künstlerin bereits diverse Projekte verwirklicht, für die man den despektierlichen Titel: „Kunst am Bau“ gefunden hat. Werke, die unmittelbar mit dem Raum verbunden sind, sich auf ihn beziehen und eine Symbiose eingehen. Auch hier, in den Galerieräumlichkeiten, können sie das nachvollziehen. Varescos Arbeiten verändern nicht das „Gesicht des Raumes“, sondern sie zeigen es erst.
Erreicht wird dies über zweierlei. Zum einen natürlich mittels des seriellen Arbeitsverfahrens, sowohl innerhalb einer Werkreihe, zum anderen durch ihre Präsentation. Da ihre Arbeiten auf nichts verweisen, keine figürlichen Arbeiten sind, haben wir zunächst als Ausgangspunkt eine inhaltliche Neutralität. Die Neutralität ist die Basis schlechthin. Ihre Arbeiten unternehmen nicht den Versuch einer inhaltlichen, psychologischen oder literarischen Interpretation. Wenn überhaupt, so muss eine solche Interpretation vom Betrachter kommen. Nur mit einer solchen, ich nenne sie „pure erhabene Substanz“, kann eine Raumerforschung unternommen werden. Gelingt dies, finden sowohl die Bilder als auch der Raum ihre Identität. Die Perfektionierung ihrer Bildidee führt zu einer perfekten Raumerfahrung, das ist es, was Varesco unter dem Zusammenklingen von Werk und Raum versteht. Die Schlagkraft ihrer Arbeiten erhöht die Schlagkraft des Raumes, lässt den Raum nicht zu einer reinen Folie werden, sondern verlebendigt ihn, lässt ihn zu einem Organismus werden, in dessen Inneren wir uns befinden. Diese Auffassung von Organismus, in welchem Mensch, Werk und Raum eins werden, hat von seiner Haltung her tatsächlich etwas geistig Spirituelles, Vibrierendes, Mitreißendes. Über Jahrhunderte hinweg haben Kirchenräume diese Ausstrahlung innegehabt. In unserer heute weitestgehend säkularisierten Welt übernehmen Orte, wie Museen und Galerien, diese Funktion, wenn die Künstler in der Lage sind, diesen Zusammenklang wirklich zu erzeugen. Varesco gelingt es mit ihren zweidimensionalen Werken, innerhalb des Raumkontextes eine Rückwirkung zum Raum selbst zu erzeugen, womit sie eine Kommunikation ermöglicht. Ihre künstlerischen Setzungen sind keine Eingriffe in die Substanz des Raumes, sondern sie spielt mit dem Vorhandenen. Sie liest die Sprache der Architektur, indem sie alle vorhandenen Materialien und Elemente mit einbezieht. Selbst die kleinste Nische findet Beachtung. Sie selbst spricht in diesem Zusammenhang von Harmonie. Interessant ist, dass sie gerne mit einem repetitiven Muster, ja Ornament arbeitet. Vergleichbar etwa mit mittelalterlichen Klosteranlagen, wo durch einen sich wiederholenden Grundriss der Räume, den Insassen über den Raum Harmonie und Konzentration vermittelt wurde. Der Grundriss selbst sollte hier bereits Vorbereitung auf ein meditatives Leben sein.
Das Geistige findet sich in der Wiederholung. Ohne Varesco einen übersteigerten geistigen Ansatz unterstellen zu wollen, so fällt doch auf, dass, bedingt durch ihre konzentrierte Hingabe an ein repetitives System, eine schwerelose, atmosphärisch harmonische Verschmelzung zwischen Bild und Raum stattfindet.
Andrea Varesco ist Malerin. Sprach ich eben von einer minimalistischen Tradition, in der sie steht, so müssen wir betonen, dass Varesco Malerin ist. Die Minimalisten sind aber keine Maler, sondern Raum-, Installations- und Objektkünstler. Dennoch gibt es auch Maler, die dieser Richtung nahe stehen, wie Agnes Martin oder auch Robert Mangold. Bei diesen Künstlern fällt auf, dass deren Strukturierung sich auf den Bildträger selbst bezieht. Das heißt bei Martin, sie arbeitet auf der Fläche mit einem Liniensystem und bei Mangold, dass er die traditionelle Rechteckform des Bildträgers in Frage stellte, den Keilrahmen mit Schrägen und Kanten neu konstruierte und seinen Linienverlauf mit den neu entstandenen, äußeren Bildkanten in Einklang brachte. Immer sind es zuerst die Linien, die bestimmend sind. Bei Andrea Varesco ist dies anders, sie arbeitet zuerst und vornehmlich mit der Farbe.
Als Ausgangspunkt haben wir es mit abstrakter Malerei zu tun, die ihre Qualität in der Malerei selbst entfaltet und die einen sehr langen Bearbeitungsprozess hinter sich hat.
Im Zentrum stehen die Materialität und die sinnliche Qualität der Farbe. Varesco versteht ihre Malerei als eine technische, ja fast sportliche Herausforderung.
Man darf sich ihren Arbeitsprozess wie in einem Experimentier - Laboratorium vorstellen.
Es geht ihr darum, aus der Farbe Malerei zu entwickeln. Darin liegt die eigentliche Bedeutung. Varesco trägt immer wieder Farbe auf, um sie anschließend wieder weg zu nehmen, wobei sich dieser Prozess mehrfach wiederholen kann. Die Farbebenen legen sich schichtweise übereinander, überlagern, verdichten, komprimieren sich. Schicht um Schicht wird der Farbe abgerungen. Immer wieder mit den Fragen versehen, was sieht man, was passiert beim Auftrag? Mal sind die Verläufe spärlicher gesetzt, mal organisierter. In der Essenz läuft es auf die reine Farbe heraus. Genau beobachtet sie, wie die Farbe sich immer neue Wege bahnt, um auf das zu reagieren, was im Malprozess selbst passiert und sich daraus ergibt. Dabei lässt sie der Farbe alle Freiheiten. Die Beziehungen der Farbsetzungen werden erst im Anschluss immer wieder analysiert und weiter ausgebaut. Das klingt sehr körperlich und ist es auch. Der physische Einsatz spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Diese Herangehensweise verbraucht Zeit und Energie. Es ist das Gegenteil einer schnellen Malerei. Die 10 Minutenmalereien der Brücke-Künstler oder die rasch gemalten Bilder der jungen Wilden wirken im Verhältnis zu Varescos Bildern wie ein Anachronismus.
Von daher wundert es auch nicht, dass das Oeuvre Varescos überschaubar ist. Mit einem derartigen Anspruch muss die Bilderproduktion gering bleiben.
Auch in dieser Ausstellung sehen sie nur wenige Bilder, bzw. Werkzyklen. Aber in ihrer Konzentration bringen sie das bildnerische Wirken Varescos auf den Punkt.
Hört man diese Beschreibung, fühlt man sich an die Analytische Malerei oder auch geplante Malerei der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert. Die Analytische Malerei entstand Ende der 60er Jahre, ausgelöst durch die analytischen Untersuchungen der Concept Art. Diese Kunstrichtung wollte die Grundlagen und Möglichkeiten der Malerei mit malerischen Mitteln analysieren. Künstler, wie z. B. Daniel Buren, Niele Toroni, Raimund Girke oder Robert Ryman, versuchen mit einfachen Streifen oder monochromem Auftrag die Qualität des Malauftrages und des Bildträgers (Leinwand, Pappe, Metall, Kunststoff) für sich wirken zu lassen. Hier liegt sicherlich eine Gemeinsamkeit, aber bei Varesco findet sich dies alles potenzierter. Mich erinnert ihr Vorgehen vielmehr an die Lasurmalereien der Alten Meister. Diese legten Schicht um Schicht auf den Bildträger und mussten erstmal lange Zeit warten, bis die Schicht getrocknet war. Erst dann konnten sie weitere Lasurschichten darüber legen. Im Ergebnis hatten diese Künstler ein flächiges Ergebnis. Bei Varesco hingegen türmen sich die Schichten zur reinen Materie auf. Sie erlangen derart haptische Qualitäten, dass man sie am liebsten berühren möchte, um die Texturen körperlich nachzuvollziehen. Die Farbe wird zum Relief, die Malerei verliert ihre zweidimensionalen Wurzeln und steigert sich ins Objekthafte hinein. Die Bilder wachsen und erlangen organische Substanz. Sie sind lebendige Malerei, die sich verselbständigt.
Diese aufgeladene Körperlichkeit strahlt Energie und Dynamik aus. Varesco treibt die Farbe voran, Schritt für Schritt, sie gibt ihr keine Atempause. Man spürt, wie sie die Farbe zu etwas Neuem bringen möchte, sie auf die nächst höhere Stufe heben möchte. Diese intensiven Farben bündeln sich zu regelrechten energetischen Krafträumen.
Der Titel der Ausstellung lautet „Energiemembranen: - von der zwingenden Präsenz der Farbe“. Um den Titel wirklich nachvollziehen zu können, muss man sich der Wirkung ihrer Malerei vor den Originalen aussetzen. Im traditionellen Bild wird die Wirkung eher psychisch ausgelöst. Die Ausstrahlung der varesco`ischen Malerei erfahren wir physisch. Ihre Energiemembranen treten uns mit einer zwingenden Präsenz entgegen. Wir befinden uns mit allen Sinnen in ihren Farbfeldern, die uns räumlich zu umgeben scheinen. Es ist wie bei bestimmten Düften oder Melodien, die uns schlagartig direkt über die Sinne in eine Stimmung versetzen, deren Ursprung wir erst im Nachhinein festmachen können.
Membran, lateinisch Haut oder Häutchen das im biologischen Kontext trennende oder abgrenzende Funktionen hat. Eine Besonderheit der Membrane ist ihre Eigenschaft, unter einer Belastung nur Zugkräfte aufzunehmen und an ihre Ränder weitergeben zu können. Dieser Zustand einer Membran heißt auch Membranspannungszustand. Ein sehr schönes Beispiel für diesen Zustand liefert eine Seifenblase. Worauf will ich hinaus?
Nehmen wir als ein Beispiel die Arbeit mit dem Titel „Diachrom - Schwarz/Rot“ aus dem Jahre 2008. Dem Bild zugrunde liegt eine schwarze Schicht, darüber legt sie eine rote Schicht. Dieser Vorgang wird wiederholt und wiederholt. Bei den Farben handelt es sich hier um Acrylfarbe. Die Acrylfarbe hat eine starke Farbwirkung, die für die Intensität der Farbschicht sorgt. Die Konsistenz der Farbe wird immer wieder neu ausgelotet. Varesco entscheidet dann, welche Malmittel sie dazumischen will. Die beiden Farben vermischen sich nicht, sondern stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Farben benehmen sich wie Membranen, die nur an ihren Rändern die Farbe weitergeben. Dadurch bleiben die beiden Farben in einem einzigartigen Spannungsverhältnis. Ihre gegenseitige Beeinflussung bestimmt dieses Spannungsverhältnis. Diese Arbeit hat sie in der Ausstellung mit einer zweiten, „Nordostlieder“ betitelt, zu einer Zweiergruppe zusammengestellt. Bei beiden Arbeiten sind auch die Leinwandseiten bearbeitet. Die Farben auf den Seiten kommen auch auf dem Bildträger selbst vor. Alles bewegt sich in einer Form, es wird nur variiert. Die energetischen Krafträume bleiben geschlossen.
Innerhalb einer Werkgruppe ist die Auswahl der Farben reduziert und überschaubar. So radikal wie Robert Ryman, der sich allein auf die Farbe Weiß fokussiert ist sie zwar nicht, aber Varesco benötigt für ihre experimentelle Malerei nur wenige Farben im gleichmäßigen Verhältnis. Nur durch Konzentration auf zwei, maximal drei Farben ist es ihr möglich, alle Variationen der Farben prozesshaft durchzuspielen.
Die Farben fangen an, eine Beziehung miteinander einzugehen. Anschließend treten sie in Beziehung mit ihrer Umgebung und entfalten ihre räumliche Wirkung und Präsenz.
Andrea Varesco will keine Botschaften vermitteln, allein der Malprozess ist ihr zum Gegenstand. Der Betrachter soll für sich herausfinden und entscheiden, was er damit verbinden möchte. Auch hier vollkommene Freiheit.
Varescos Farbbefragungen finden sich nicht als monochrome Malerei wieder. Alle ihre Arbeiten haben ein flächenfüllendes Muster bzw. ein Ornament. Am konkretesten sind diese Muster, wenn sie sich geometrischer Formen bedient. Aber diese Muster können auch vollkommen unbestimmt sein. Bei den eben angesprochenen Arbeiten kann man das beispielhaft durchexerzieren. Ich habe Fotographien der beiden Arbeiten drei verschiedenen Personen gezeigt. Die erste sah darin florale Motive, die zweite glaubte sich im Inneren eines organischen Körpers und die dritte konnte überhaupt keine Assoziationen finden.
Ihnen dürfte es ähnlich ergehen. So intensiv der Farbauftrag betrieben wird, so akribisch werden auch die diversen Musterungen betrieben. Oftmals kleinteilig, rhythmisch verteilt, zeugen sie von einer durchgehaltenen Konsequenz, die durchaus obsessive Züge trägt, weil sie immer noch etwas hinzuzufügen hat.
Innerhalb der Musterungen finden sich diverse lineare Elemente. Hier zeigt sich auch Varescos großes graphisches Vermögen. Wie bereits erwähnt, arbeitet Varesco in Werkgruppen, zwar gibt es auch autonome Einzelbilder, aber diese sind die Ausnahme.
Die rhythmischen Wiederholungen innerhalb einer Serie dienen dazu, immer einen neuen Aspekt heraus zu kristallisieren. Innerbildlich entstehen verschiedene Wirkungen. Manche Arbeiten entfalten eine große Tiefenwirkung, andere verlagern sich wesentlich intensiver in den Bildvordergrund und verweigern jegliche Tiefe.
Andrea Varesco ist eine Künstlerin, bei der man spürt, dass Kunst aus einer inneren Notwendigkeit entsteht. Die Haltung, die ihrem Werk zugrunde liegt, entstammt einer tatsächlichen Hingabe an die Farbe und deren Möglichkeiten. Im Ergebnis malt Varesco Bilder, deren Verfallsdatum ein längeres Verfallsdatum aufweist als üblich. Darin liegt eine der Stärken ihrer Kunst.
Jean Christoph Ammann würde es so nennen: Ordnung - Unordnung: Expansion. Varesco schafft Ordnung in der Unordnung, die es uns ermöglicht, darin zu expandieren.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit

Dr. Peter H. Forster
Museum Wiesbaden